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Meine Schulzeit - ein Rückblick (Teil 1)

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  • Meine Schulzeit - ein Rückblick (Teil 1)

    Von einem, der auszog und das Fürchten lernte...


    ...berichtete in den sechziger Jahren Günter Wallraff. Mit gut 40 Jahren Abstand tue ich heute dasselbe. Im Gegensatz zu Wallraffs frühen Reportagen ist beim vorliegenden Bericht – wie schon angedeutet – weniger die Arbeitswelt, sondern vielmehr das weitmaschige Schulsystem unseres Landes Gegenstand der Anklage.

    Ich war Schüler an verschiedenen Schulen. In diesem Punkt unterscheidet sich meine Laufbahn sicherlich nicht wesentlich von derer vieler zehntausend anderer Schüler.

    XXX, Stadtmitte. Eingebettet zwischen einem auf der anderen Seite der Hauptstraße errichteten Bürokomplex, dem Fernmeldeamt und einem Industriegebiet liegt das Schulzentrum XXX, in dem die 5600-Seelen-Gemeinde gleich drei Schultypen auf relativ engem Raum vereinigt. Zur Straße hin die Grund- und Hauptschule, deren ältestes Gebäude noch aus des Kaisers Zeiten datiert und das in den frühen sechziger Jahren – bedingt durch den damals grassierenden Geburtenboom und der Auflösung der Dorfschulen – um einen schmucklosen Neubau erweitert wurde. In etwas ruhigerer Lage, weil angrenzend an ein Wohngebiet, befinden sich das Gymnasium und die Kaufmännischen Schulen, die in vier verschiedene Schultypen aufgegliedert sind. Beiden Schularten fällt die Aufgabe zu, mehrere hundert Schüler unter ihrem Dach zu versammeln, was dem Umstand zuzuschreiben ist, dass diese den umliegenden Ortschaften und z. T. auch anderen Landkreisen entstammen.



    „Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann?...“


    „Der Juni schließt“, sagt der Volksmund, und will damit bedeuten, dass nur diejenigen Kinder, welche bis zum 30. Juni eines Jahres geboren wurden, noch im sechsten Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland in den Genuss des neuen Lebensabschnitts kommen. Wer wie ich nach diesem Stichtag das Licht der Welt oder des Kreissaals erblickte, hat eben Pech.
    „Er ist an allem interessiert, was mit dem Schreiben zu tun hat“, bemerkte Mutter bei der Schulanmeldung gegenüber der diensthabenden Sekretärin, als diese sich gerade über ein Formular beugt. Frau Dr. Villmar oblag es bei der ärztlichen Untersuchung, mich auf meine „Schultauglichkeit“ hin zu prüfen. Nach einer strengen Begutachtung meiner Person hatte ich meine Schultauglichkeit in der Tasche.

    Und so betrat ich an einem Dienstag im September 1983, einem sonnigen Spätsommertag der zugleich mein siebter Geburtstag sein sollte, zum ersten Male als Schüler ein Schulgebäude. Helmut Kohl war seit einem Jahr Bundeskanzler, die Konfrontation der großen Machtblöcke bestand noch und die EDV machte ihre ersten Schritte in die Büros. Ehrlich gesagt, freute ich mich darauf, endlich mit dem Lesen, Schreiben und all den anderen Techniken vertraut zu werden. Meine schulische Karriere nahm in der zweiten Etage des Neubaus der Grund- und Hauptschule ihren Lauf. Viele meiner Mitschüler kannten sich durch den Besuch ortansässiger Kindertagesstätten oder anders hergestellter Kontakte bereits, mir jedoch waren die meisten Gesichter bis zu diesem Tag unbekannt, konnte ich doch keinen der XXXer Kindergärten besuchen. Frau Vermaat, die Klassenlehrerin, schon etwas betagt, begleitete ihre Funktion die gesamte Grundschulzeit. Die Klasse umfasste zu Beginn 24 Schüler, wobei im Verlauf der kommenden vier Jahre mehrere Schüler der Klassengemeinschaft aus unterschiedlichsten Gründen abhanden kamen, die Anzahl sich jedoch durch die Aufnahme von neuen Mitschülern auf einem recht stabilen Niveau hielt. Bernd zog mit seinen Eltern in der dritten Klasse in eine südbadische Kleinstadt, sollte jedoch wenige Jahre später den Weg nach XXX wieder zurückfinden. C. und S. wiederholten jeweils freiwillig ein Schuljahr. Und E. verlies mit ihren Eltern unsere Klasse, nachdem sich deren Vater beim Hausbau verspekuliert hatte und daher – so die offizielle Erzählweise - der Umzug in eine andere Gemeinde notwendig wurde. Doch immer wieder diente die Vermaat-Klasse als Auffangbecken für Neuankömmlinge. Edmund verschlug es in der vierten Klasse von der Rheinmetro.... Köln zu uns, wo sich der Brillenträger durch seine überragende Sportlichkeit schnell Aufmerksamkeit verschaffte. Auch das Nordlicht Ellen, eine Eisenbahnertochter, machte, einmal in der 4a angekommen, bald nicht nur durch ihre Körpergröße von sich reden.

    Mit dem Alphabet schon lange vor Schulbeginn vertraut, hatte ich auch keinerlei Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Im Gegenteil. Sehr bald erwachte in mir ein unbändiges Interesse am geschriebenen Wort. Schon im ersten Schuljahr war keine Zeitung vor mir sicher. Kinderbücher kamen ebenso unter meine Fittiche wie jene Literatur, die deutlich über meine Altersklasse hinaus ging. Mein hauptsächlicher Schwerpunkt lag sehr bald auf der Geographie. In Atlanten konnte ich mich stundenlang vertiefen und kam nicht aus dem Staunen heraus, welch unbeschreiblich schöne Landschaften diese Welt in all ihren Facetten zu bieten hat. Ein Globus sollte dieser Leidenschaft bald weitere Nahrung zukommen lassen. Der "Atlas für Kinder", das Jugendlexikon "Was Kinder wissen wollen" und andere Fachliteratur wurden schnell treue Gefährten. Erstgenanntem Opus kam gar so etwas wie ein "Bibel-Status" zu und war kurz darauf so zerlesen, dass unentwegtes Bitten und Betteln meine Mutter erweichte, ein Ersatzexemplar zu beschaffen. Dabei erfasste mein Wissensdurst durchaus Gebiete, die die oben genannten nicht unbedingt tangierten. Die Entwicklung der Menschheit von ihren Anfängen und die Millionenjahre Existenz der Dinosaurier fesselten mich nicht weniger. Nur der Belletristik konnte ich bis dato noch nicht allzu viel abgewinnen. Diverse Versuchte, mir Enid Blytons „Tal der Abenteuer“ oder andere Jugendliteratur anzutun, scheiterten kläglich. Stattdessen wurde das Buch, einmal angelesen, mehr und mehr zum Objekt meiner kindischen Malkünste. Mir fehlte einfach die Geduld, ein Nicht- Sachbuch zu Ende zu lesen. Das sollte sich erst Jahre später ändern.

    Doch war das heimische Bücherbord nicht die einzige Quelle meiner medialen Bedürfnisbefriedigung. Das noch überwiegend von öffentlich-rechtlichen Trägern ausgestrahlte Fernsehprogramm der frühen achtziger Jahre prägte mich kaum weniger nachhaltig. „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ zog mich noch vor meiner Einschulung Woche für Woche in ihren Bann. Die fulminante Schilderung der landschaftlichen Schönheit Schwedens mit ihrer einzigartigen Tierwelt hatte einen bleibenden Eindruck in meiner kindlichen Vorstellungskraft und Fantasie hinterlassen. Etwas später sollten die Abenteuer von „Patrick Packard“ und „Silas“ diese Eindrücke verstärken; zeitgleich zog ich mir allerdings auch die ganzen amerikanischen Seifenopern rein, vor allem das „Trio mit vier Fäusten“, jene schrägen Privatdetektive mit dem Alleskönner von Roboter und das abenteuerliche Leben des Ehepaars Hart in der TV-Schnulze „Hart aber herzlich“, ließen meine Präsenz vor dem Bildschirm nie missen. Einen merkwürdigen Einfluss hatten die Themen „Verkehrssicherheit“ und „Auto“ auf mich, was dazu führte, dass ich keine Folge des „7. Sinns“ verpasste und das Begleitbuch zu dieser Serie bald darauf in den Händen halten konnte. Der Gang zum Supermarkt zwecks Erwerb einer druckfrischen Ausgabe des Automagazins war allwöchentlich ein gern zelebriertes Ritual.
    Die erste Zeit konnte ich mit Aglaia, einer Nachbarstocher, den Weg zur Schule bestreiten, da ihre Klasse um dieselbe Zeit mit dem Unterricht startete. Und so legten wir die 20-Minuten Strecke zurück, vorbei an den zum Kinzigstrand hin in den 70er-Jahren errichteten bungalowartigen Wohnblocks, über die Brücke, die später der Abrissbirne anheimfiel und durch eine Neukonstruktion ersetzt wurde. Ein regelrechtes Highlight war die Benutzung der im Volksmund „Mausloch“ genannten, damals schlecht beleuchteten Bahnunterführung, die den Passanten jahrelang in greller Farbe „Wenn der Wald stirbt, stirbt Kohl“ als düstere Prophezeiung entgegenschleuderte. Als Anjas Klasse mit dem Unterricht zeitversetzt begann, wurde Cathy mehr und mehr zu meiner Begleiterin. Dass wir die Strecke Hand in Hand bewältigten, war für uns das Normalste der Welt.

    Alle paar Tage wurde ein neuer Buchstabe eintrainiert, wurde die Addition durch die Subtraktion erweitert. In einem später ziemlich dick aufquellenden grün lackierten Din-A5-Ordner wurden in alphabetischer Reihenfolge die abgehandelten Buchstaben mit ihren z. T. ziemlich dämlichen Wortgebilden abgeheftet. Meine anfangs vorhandene Motivation wurde in der Folgezeit erheblich gedämpft. da ich feststellen musste, dass ich mich in handwerklicher noch sportlicher Hinsicht - der Fächerkanon war zur Hälfte auf Fächer dieses Einschlags ausgelegt – „als wenig gewandt erwies“ (wie der Schulbericht des ersten Schuljahres den Leser wissen lies) und sich die häufigen körperliche Angriffe meist älterer Schüler gegen mich auch in der Schule fortsetzten. Mit Alex, einem besonders aggressiven Schläger, der sich eine Klassenstufe über mir befand machte ich in den darauf folgenden Jahren immer wieder solche Erfahrungen. Bereits in den ersten Wochen nach Schulbeginn wurde ich fast täglich von ihm und dessen Clique abgepasst und massiv verprügelt. Als ich mich endlich meinen Eltern anvertraute, sorgte ein Anruf meines Vaters bei der Mutter des Übeltäters einige Zeit für Ruhe. Doch sehr bald sah Alex wieder seine Zeit gekommen und die Schikanen begannen von neuem. Ohrfeigen und Fußtritte waren festes Programm. Auch in meiner Klasse war ich recht isoliert. Von Anfang an hatte ich schon das Gefühl, an die anderen nicht richtig ranzukommen.

    Engeren Kontakt hatte ich lediglich zu Cathy und Manfred, die für die folgenden Jahre meine bevorzugten Kameraden in Schule und Freizeit bleiben sollten. Mein Bedürfnis nach Anerkennung war enorm. Dadurch, dass meine persönliche Interessenlage nicht selten vom schulischen Unterrichtsstoff abwich, bedienten sich Schulkameraden, allen voran ein recht arroganter Lehrersohn, schnell dem Erklärungsmuster "faul" und/oder "dumm". Klassenlehrerin Vermatt verbarg im Jahresschlussbericht des ersten Schuljahres nicht ihre Verwunderung darüber, dass ihr Schützling "immer wieder ins Träumen" geraten würde und nur "mit Mühe die Konzentration aufrechterhalten" könne.

    Nicht ins Träumen, dafür aber in blankes Entsetzen versetzten mich Frau Lennarts Unterrichtsmethoden. Lennart war zu dieser Zeit bereits einige Jahre an der Grund - und Hauptschule tätig und hatte unter den Schülern regelmäßig für Unmut gesorgt. Für mich versinnbildlichte diese Person als erste, dass Schule eben nicht nur eine schöne Zeit, sondern durchaus in einer Herausforderung für Geist und Seele eines Eleven bestehen kann.
    Ich bin der Typ Mensch, der von seiner Umwelt nicht zu Unrecht mit dem Etikett "zwei linke Hände" behaftet wird. Häkeln, Stricken und andere Fertigkeiten der Sparte "Textiles Werken/Bildhaftes Gestalten" wurden da schnell zur Qual. Wenn sich zu dieser Situation dann auch noch eine Pädagogin addiert, deren Fertigkeiten über Anbrüllen und Handgreiflichkeiten nicht hinauskommen, ist die Katastrophe perfekt.

    Ich: "Frau Lennart, könnten Sie mir den Häkelvorgang bitte noch einmal erklären?"
    Lennart (ganz entnervt): "Mensch Matthias, dass du das nicht verstehst."
    Ich: "Aber Frau Lennart, Sie müssen wissen, dass ich für solche Dinge eben ein wenig länger brauche!"
    Lennart: "Bist Du denn immer so?"
    Klasse (im Chor): "Ja, der ist immer so!"

    Mein Desinteresse brachte es mit sich, dass ich in einer späteren Stunde. was selten genug vorkam, den Unterricht störte. In solchen Fällen zeigte sich Lennart in der Auswahl der Bestrafungstechniken nicht zimperlich. Statt pädagogisch geeignete Mitteln anzuwenden, befahl sie mir, nach vorne zu kommen und den Rest der Stunde damit zu verbringen, mich mit dem Gesicht an die Wand zu stellen. Eine Demütigung, die in keinem Verhältnis zu meinem Fehlverhalten stand. Recht rustikal reagierte die Paukerin auch in einem anderen Fall. Tim, ein aufgeweckter Typ, der sich die monatliche Lektüre der Flohkiste nie entgehen lies, war des Unterrichts verwiesen worden und weigerte sich vehement, das Klassenzimmer wieder zu betreten. Lennart daraufhin: "Also wenn der Tim jetzt nicht gleich hereinkommt, hole ich ihn persönlich herein. Das könnt ihr ihm ruhig ausrichten!" Meine Wege kreuzten sich mit denen Lennarts erst wieder in der sieben Jahrgangsstufe.
    Szenenwechsel. Mathematik. Meine Obsession diesem Fach gegenüber bestand bereits in der ersten Klasse, obgleich die Leistungen immerhin im befriedigenden Notenspektrum waren und in den folgenden beiden Jahren gar auf "gut" gesteigert werden konnten. So ist es für mich im nachhinein völlig unverständlich, warum jeden Mittwochnachmittag ein einstündiger "Stützkurs Mathematik" meine Freizeitplanung über den Haufen werfen sollte. Diese Zwangsveranstaltung erreichte mit ihrem Gebaren nämlich genau das Gegenteil: Festigte sich bei mir mit zunehmender Leistungsstärke auch mein Selbstbewusstsein und Interesse für dieses Fach, wurde mir dieses durch den "Stützkurs" und den damit verbundenen Makel der Leistungsschwäche im Laufe der Zeit wieder nahezu ganz genommen. Der Weg zum späteren Katastrophenniveau war vorgezeichnet.
    Und nicht zuletzt deswegen habe ich bereits damals begonnen, mich von der Schule innerlich zu entfremden. Zunächst galt es dennoch, diese Jahre zu meistern. Dies gelang mir auch recht ordentlich, bewegten sich die Zeugnisnoten in allen Fächern im Bereich der Werte "gut" bis "befriedigend". Vermatt konnte sich trotzdem nicht wenigstens zu einer Realschulempfehlung durchringen, als im vierten Schuljahr die Weichen für den weiteren Schulbesuch gestellt wurden. Eine solche "Empfehlung" hat in Baden-Württemberg verbindlichen Charakter und hat somit entscheidenden Einfluss auf Wohl und Wehe eines Pennälers. Einzig und alleine eine angesetzte Aufnahmeprüfung der entsprechenden Schule konnte da etwas ausrichten. Doch darauf wurde in meinem Fall erst gar nicht zurückgegriffen.
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